Titelfoto: Djemaa el Fna, der zentrale Platz von Marrakesch
Das Marktpotenzial für Lebens- und Krankenversicherungen blüht in vielen Ländern der MENA-Region, angetrieben durch ein robustes Wirtschaftswachstum, Investitionen in die Infrastruktur und eine wachsende Mittelschicht.
Wenn im Januar 2025 wieder die Arab Health stattfindet, wird das Dubai World Trade Center voll sein. Die größte Gesundheitsmesse im Nahen Osten zieht regelmäßig Zehntausende Fachbesucher aus der ganzen Welt an. Beim letzten Mal kamen rund 65.000 Menschen, um das Angebot der rund 3.500 Aussteller zu sehen. Der Erfolg der Messe steht für zweierlei: die wachsende Bedeutung des Messestandorts Dubai sowie der Gesundheitsbranche in der gesamten Region Naher Osten und Nordafrika (MENA – Middle East and North Africa). Und das zeigt, dass die Region längst mehr ist als nur ein Lieferant von Rohstoffen und schönen Reisefotos.
Mehrere Länder in der Region MENA zeichnen sich durch ein stetiges Wirtschaftswachstum und damit einhergehend durch eine wachsende Mittelschicht aus. „Dies eröffnet Marktpotenziale für Versicherer in diesen Ländern, und damit auch Marktchancen für Rückversicherer“, sagt Nawal Himes, Leiterin des Marktbereichs Life & Health Middle East/North Africa bei der Deutschen Rück.
Im Mai 2024 begann die Deutsche Rück mit der Zeichnung von Lebens- und Krankenversicherungsgeschäft in der Region MENA, wobei ihr Schwerpunkt auf den Ländern des Gulf Cooperation Councils (GCC) sowie den Maghreb-Staaten liegt. Damit setzt die Deutsche Rück ihre Strategie der schrittweisen Internationalisierung und Diversifizierung fort. „Der Lebensversicherungssektor in der Region MENA ist bereit für weiteres Wachstum, und wir sind entschlossen, unsere Partner dabei zu unterstützen“, sagt Himes. Die Rückversicherungsspezialistin ist in Marokko geboren, lebt und arbeitet aber heute in Düsseldorf. Himes bringt nicht nur ein tiefes Verständnis der arabischen Kultur, sondern auch über 17 Jahre Erfahrung in der Rückversicherung mit. Sie hat die Märkte im Nahen Osten und in Afrika in mehreren leitenden Positionen bei der Société Centrale de Réassurance in Casablanca betreut.
Die Deutsche Rück ist nicht neu in der Region: In Nordafrika und im Nahen Osten ist der Rückversicherer schon seit einiger Zeit in der Schaden- und Unfallversicherung tätig. Laurent Beauregard, der bei der DR Swiss für die Deutsche Rück Gruppe das Schaden- und Unfallgeschäft in Marokko, Algerien und Tunesien betreut, ist mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden, trotz des verheerenden Erdbebens in Marokko im Jahr 2023.
Das Land mit dem größten Marktpotenzial in Nordafrika ist Marokko. „Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft 2030, die in Marokko, Spanien und Portugal ausgetragen wird, führen zu Investitionen in die Infrastruktur. Auch Großprojekte wie der Bau mehrerer Stauseen im Atlasgebirge und Investitionen in die Eisenbahn- und Hafeninfrastruktur treiben die wirtschaftliche Entwicklung des Landes voran“, sagt Beauregard. Dieses Potenzial spiegelt sich auch im Wirtschaftswachstum wider: Während die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2022 bei 1,3 Prozent lag, ist sie im Jahr 2023 auf 3,0 Prozent gestiegen. Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) gehen davon aus, dass das BIP in den Jahren 2024 und 2025 ähnliche Wachstumsraten aufweisen wird.
Daraus ergeben sich klare Chancen für Versicherer. „Der marokkanische Versicherungsmarkt hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte in Bezug auf Wachstum, Customer Experience sowie innovative Produkte und Dienstleistungen gemacht“, sagt Himes. Lebensversicherungen machen fast die Hälfte der Gesamtprämien aus. Die anstehenden Gesetze und Reformen zur Regulierung des Marktes zeigen das Bestreben des Versicherungssektors, seine Solidität, Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität zu stärken.
„Marokko hat sich zu einem Business Hub für den afrikanischen Kontinent entwickelt“, sagt Claudia Schmidt von der Deutschen Außenhandelskammer (AHK) in Marokko. Für Reisen in die meisten anderen afrikanischen Länder ist kein Visum erforderlich, und Freihandelsabkommen erleichtern den Warenverkehr. Das lockt viele große internationale Unternehmen ins Land, die Marokko als Sprungbrett für ihr Afrika-Geschäft nutzen. Der Markt wird daher auch von Kranken- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, die Arbeitgeber anbieten, bestimmt. Zu den beliebtesten Leistungen gehört die Absicherung im Krankheitsfall – sei es eine Versicherung, die Arztbesuche, Therapien und Medikamente abdeckt, oder eine Versicherung, die bei schwerer Krankheit oder Invalidität finanzielle Unterstützung leistet. Obwohl es in Marokko seit einigen Jahren eine staatliche Krankenversicherung gibt, ist das Leistungsgefälle zwischen öffentlichen und privaten Gesundheitsangeboten immer noch groß. „Die Unterschiede zwischen einer privaten und einer öffentlichen Klinik sind in Marokko deutlich größer als in Deutschland“, betont Schmidt, die seit sechs Jahren in dem Land lebt.
Nawal Himes, Leiterin des Marktbereichs Life & Health Middle East/North Africa bei der Deutschen Rück
DR-Swiss-Experte Beauregard betont, dass Privatpersonen in Marokko oft nicht die finanziellen Mittel haben, um in Versicherungen zu investieren, ohne dazu verpflichtet zu sein. Insuretech-Anwendungen erfreuen sich trotzdem zunehmender Beliebtheit, was dem Lebensversicherungsmarkt über die obligatorische Deckung hinaus einen Schub geben könnte.
Insuretech-Anwendungen versprechen nicht nur mehr Komfort, sondern vereinfachen im besten Fall auch die Underwriting-Prozesse. Das senkt letztlich die Versicherungskosten auch für Marokkaner, die von einem Durchschnittsgehalt leben. Die Technologien tragen dazu bei, Abläufe zu optimieren. So überrascht es nicht, dass die marokkanische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die soziale Sicherheit (ACAPS) Insuretech-Anwendungen in ihren strategischen Zielen Priorität einräumt und sogar eine eigene Abteilung eingerichtet hat, die sich mit diesem Thema befasst. „Der steigende Lebensstandard der Marokkaner und die Nachfrage nach attraktiveren Spar- und Absicherungslösungen sind wichtige Triebfedern für das Wachstum des Marktes“, sagt Himes.
Weil die Staaten des Gulf Cooperation Councils (GCC) deutlich weiter entwickelt sind als die Maghreb-Region, sind sie auch im Bereich der Lebens- und Krankenversicherungen lohnende Märkte. Politische und wirtschaftliche Stabilität verbunden mit einem gewissen Glamourfaktor zeichnen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) aus. „Die VAE sind ein leuchtendes Beispiel für Stabilität im Nahen Osten, mit einer florierenden Wirtschaft und politischen Landschaft“, sagt Markus Brandt, Senior Consultant beim German Emirati Joint Council for Industry and Commerce (AHK). „Das Land bietet große Chancen für Unternehmen und Investoren, die ein günstiges Klima für Wachstum suchen.“
Zu den Unternehmen, die in den Emiraten Abu Dhabi, Ajman, Dubai, Fujairah, Ra's al-Khaimah, Sharjah und Umm al-Qaiwain vertreten sind, gehören Schwergewichte wie Automobilhersteller, aber auch Dienstleister und Anlagenbauer. „Dienstleister aus der ganzen Welt haben sich in der Region etabliert, insbesondere im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist ein starker Anstieg zu verzeichnen“, erklärt Brandt. So hat beispielsweise Microsoft 1,5 Milliarden US-Dollar in das arabische KI-Unternehmen G42 mit Sitz in Abu Dhabi investiert. Deals dieser Größenordnung sind neben großen Infrastrukturprojekten die Faktoren, die Beobachter zuversichtlich auf die wirtschaftliche Entwicklung in den Emiraten blicken lassen. Der IWF rechnet mit einem Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent für das Jahr 2024.
Platz am Eingang zur Dubai Mall
Platz am Eingang zur Dubai Mall
Wie andere Länder in der MENA-Region verfolgen auch die VAE eine Strategie zur wirtschaftlichen Diversifizierung. In Dubai ist diese Strategie unter dem Namen Dubai Economic Agenda D33 bekannt. Zu den Infrastrukturprojekten gehören der neue Flughafen, der in seiner letzten Ausbaustufe 260 Millionen Passagiere pro Jahr abfertigen soll, sowie das Schienennetz von Etihad Rail, das inzwischen 900 Kilometer lang ist und alle Emirate miteinander verbindet. Die Strecke ist bereits für den Güterverkehr geöffnet, und Personenzüge sollen in naher Zukunft folgen.
Die VAE, insbesondere Dubai, ziehen seit Jahren Expatriates an – und immer mehr von ihnen bleiben für immer längere Zeit. Viele kaufen deshalb Immobilien, gründen Familien und sichern ihre finanzielle Zukunft langfristig ab. Diese Veränderung spiegelt das wachsende Bestreben unter Expatriates wider, in den VAE Wurzeln zu schlagen und eine Atmosphäre von Stabilität und Beständigkeit zu schaffen. Kurz: Die VAE sind nicht mehr nur einer von vielen Meilensteinen im Lebenslauf der Expatriates – für viele sind sie das endgültige Ziel der Reise und ein Zuhause geworden.
All diese Faktoren beeinflussen das Wachstum des Lebens- und Krankenversicherungsmarktes in den VAE positiv. Aufgrund einer relativ großen Mittelschicht mit großer Kaufkraft, der Vertrautheit mit Lebensversicherungsprodukten und einem soliden regulatorischen Umfeld sind die VAE heute der größte Lebensversicherungsmarkt im Gulf Cooperation Council. Nach Angaben von Mordor Intelligence hat der dortige Markt für Kranken- und Pflegeversicherungen derzeit ein Volumen von rund 10,5 Milliarden US-Dollar. Die Analysten von Mordor Intelligence erwarten bis zum Jahr 2029 ein Wachstum von über zwölf Prozent.
Lokale Versicherungen werden von diesem Wachstum profitieren. Dabei können sie auf die Expertise, Stabilität und Zuverlässigkeit der Deutschen Rück zählen. Die jahrzehntelange Erfahrung des Unternehmens, stabile, vertrauensvolle und langfristige Beziehungen zu seinen Kunden in Europa aufzubauen, erstreckt sich nun auch auf die MENA-Region, wo die Deutsche Rück seit 2020 tätig ist. Himes bestätigt: „Wir werden auf derselben Basis weiterarbeiten und uns darauf konzentrieren, unsere Beziehungen zu bestehenden Partnern zu stärken und langfristige und vertrauensvolle Beziehungen mit neuen Partnern aufzubauen.“
Die Cyberversicherung ist die große Wachstumshoffnung der Versicherer. Gleichzeitig entwickeln sich aber die Risiken so dynamisch wie in keiner anderen Sparte. Im ersten Halbjahr 2024 nahm die Zahl großer Cyberschäden um 14 Prozent zu. Soll Cyber weiter versicherbar bleiben, muss die Resilienz der Kunden gegen die Cyberbedrohung kontinuierlich gesteigert werden.
Es war ein globaler Weckruf: Im Juli 2024 kam es zu einem Massenausfall von IT-Systemen, auf denen eine Anwendung des US-Cybersicherheitsspezialisten CrowdStrike lief. Ein fehlerhaftes Update legte weltweit rund 8,5 Millionen Windows-Computer lahm. Zum Glück ging der Fall relativ glimpflich aus – weil kein gezielter Angriff von Cyberkriminellen die Ursache war, sondern ein Update-Fehler, der schnell behoben werden konnte. Aber der Vorfall zeigte das gewaltige Risikopotenzial, das in einer zunehmend vernetzten Welt besteht. Und den Versicherern führte CrowdStrike vor Augen, wie groß das Kumulrisiko sein kann, wenn es zu globalen Ausfällen in der digitalen Infrastruktur kommt.
Die Assekuranz ist momentan dabei, die genauen Lehren aus dem Fall CrowdStrike für die Versicherbarkeit von Cyber zu ziehen. Von entscheidender Bedeutung beim Umgang mit solchen Kumulrisiken ist die grundsätzliche Stärkung der Resilienz auf Kundenseite. Dr. Oliver Lamberty, der bei der Deutschen Rück das fakultative HUK-Geschäft leitet, schlägt Unternehmen vor, auch neue Wege zu gehen: „Es wäre überlegenswert, dass Versicherer gemeinsam mit der Wirtschaft eine Art Frühwarnsystem installieren, um eine Kumuleskalation zu verhindern, die sich etwa durch das zeitlich gestaffelte Hochfahren von Computern weltweit ergeben kann.“
Sorgen macht vielen Sicherheitsexperten auch der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) aufseiten der Cyberangreifer. KI revolutioniere die Cyberkriminalität und wirke als Brandbeschleuniger, lautete kürzlich die eindringliche Warnung von US-Versicherungsaufsehern. Natürlich wird auch der Einsatz von KI zur Abwehr von Cyberattacken und zur Stärkung der Cyberresilienz zunehmend wichtiger. Aber Kriminelle halten sich im Gegensatz zu Dienstleistern und Versicherern nicht an ethische Standards und Datenschutzvorgaben. Deshalb sind sie nach Ansicht von Sicherheitsfirmen den Verteidigern beim Einsatz von KI tendenziell zwei bis drei Jahre voraus. Ohne den gezielten Ausbau von KI-gestützten Verteidigungsstrategien würden Kunden und Versicherer künftig gefährlich weit hinter der Technik der Cyberangreifer zurückbleiben.
Nicht nur die Angriffsmethoden der Cyberkriminellen verändern sich, auch ihre Ziele: Waren es früher hauptsächlich Ransomware-Attacken zur Blockierung von Firmen-IT, so sind Datenschutzverstöße mittlerweile die häufigste Ursache für Cybervorfälle. Weltweit waren im ersten Halbjahr 2024 zwei Drittel aller großen Cyberschäden auf Datenschutzverletzungen zurückzuführen. Wenn insbesondere personenbezogene Daten in die Hände von Cyberkriminellen fallen, kann das angesichts immer strikterer Datenschutzvorgaben zu erheblichen Schadenersatzforderungen führen.
Um die Wirtschaft in diesem Bereich resilienter zu machen, muss das Augenmerk der Versicherer noch stärker auf dem sicheren Umgang ihrer Kunden mit vertraulichen Daten liegen. Hier hilft auch die europäische Regulierung: Die Umsetzung der aktuellen Verordnung DORA (Digital Operational Resilience Act) und der NIS2-Richtlinie zur IT-Sicherheit in allen europäischen Märkten soll für eine deutlich höhere Sicherheit der Unternehmen beim Umgang mit ihrer IT und ihren Daten sorgen. Weil der Regulierer es verlangt, werden nun auch mühevolle Maßnahmen wie etwa die Anlage eines IT-Dienstleister-Verzeichnisses umgesetzt, was einen besseren Blick auf die Risikoexponierung ermöglicht.
Viele Cyberversicherer haben zuletzt den Mittelstand als Kundengruppe ins Visier genommen. Hier ist Cyberdeckung noch deutlich weniger verbreitet als bei Großunternehmen, zudem lässt sich das Risiko breiter über den ganzen Markt diversifizieren. Allerdings ist das Kumulrisiko – etwa durch die weite Verbreitung der gleichen Software – nicht unerheblich. Außerdem ist die Anfälligkeit für Cyberangriffe hoch, da gerade viele kleinere Unternehmen im Umgang mit dem Thema Cybersicherheit überfordert sind. „In der Praxis zeigt sich oft, dass die Risikolage in Cyber in Wirklichkeit deutlich schlechter ist als alle einschlägigen Umfragen nahelegen“, beklagt Manuel Bach, Referatsleiter Cybersicherheit für kleine und mittlere Unternehmen beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Ein Grund sei, dass viele Verantwortliche schon die einfachsten technischen Fragen nicht verstünden – und dann die Umfragen einfach so beantworteten, wie es offenbar gewünscht sei.
„Um ihre Resilienz zu erhöhen, müssen die kleinen und mittleren Unternehmen bei der Cybersicherheit ihre Hausaufgaben machen, damit sie wenigstens die Basisanforderungen erfüllen können“, sagt Lamberty. Das könne etwa relativ einfach über die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Behörden erfolgen, in Deutschland zum Beispiel mit dem BSI. Bach lud auch die Versicherer ein, den unter anderem vom BSI entwickelten IT-Sicherheitsstandard DinSpec27076 zur technischen Grundanforderung ihrer Policen für Gewerbekunden zu machen. Das erspare allen Beteiligten viel Arbeit.
Dr. Oliver Lamberty, Leiter Fakultatives HUK-Geschäft und HUK-Spartenmanagement bei der Deutschen Rück
Der Cybermarkt bleibt weiter im Spannungsverhältnis von großen Wachstumsperspektiven und bedrohlichen Schadenszenarien. Die Wachstumsraten bei Cyberversicherungen dürften in den meisten europäischen Märkten weiter zweistellig bleiben. Momentan hat sich auch dank der strikteren Anforderungen der Versicherer an die IT-Sicherheit ihrer Kunden die Schadensituation trotz der weiter zunehmenden Cyberattacken einigermaßen entspannt, und die technischen Ergebnisse sind gut. Damit das so bleibt, muss aber auch in Zukunft die Stärkung der Resilienz weiter im Vordergrund stehen, denn sonst kann aus dem Hoffnungsträger Cyber angesichts der sich dynamisch entwickelnden Bedrohungslage ein gefährlicher Verlustbringer für die Versicherungswirtschaft werden.
Durch Globalisierung, technologische Vernetzung und Klimawandel entstehen immer öfter neuartige Risiken, für die bislang keine Erfahrungswerte vorliegen. Die potenziellen Auswirkungen solcher Risiken frühzeitig zu erkennen wird für Versicherer immer erfolgskritischer.
Fast eine Woche steht das Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide im März 2024 still. Grund ist ein Anschlag auf die Stromversorgung in der Nähe der Fabrik. Mehrere Tausend Autos hätten in dieser Zeit vom Band laufen sollen, und es ist nicht der erste Ausfall im Werk. Die Gründe waren unterschiedlich, einen Hackerangriff gab es bisher nicht. Aber auch der kann verheerende Auswirkungen haben. Werden die zentral gesteuerten Roboter entlang der gesamten Fertigungslinie lahmgelegt, kann es passieren, dass die Steuerung der Maschinen komplett neu installiert werden muss. Das kann mitunter Wochen dauern.
Was wie ein Albtraum jedes Unternehmers klingt, könnte schon bald zu einer alltäglichen Bedrohung werden, denn die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung macht die Industrie verwundbarer. Je stärker Maschinen und Systeme vernetzt sind, desto größer ist das Schadenpotenzial bei einem Ausfall. Wo heute vielleicht nur einzelne Maschinen ausfallen, könnten bald ganze Anlagen betroffen sein. Auch kleinere und mittelständische Unternehmen stellen zunehmend auf autonome Maschinen um – und damit auf eine Technologie, die anfällig ist.
In Wirtschafts- und anderen Lebensbereichen entstehen laufend neue Risiken. Deren Gefahren- und Schadenpotenzial ist aufgrund mangelnder historischer Daten nicht bekannt. Die Folgen sind entsprechend schwer einzuschätzen. Versicherer stehen damit vor der Herausforderung, diese sogenannten „Emerging Risks“ möglichst frühzeitig zu erkennen und zu bewerten. Nur so können sie verhindern, dass neue Risiken das Geschäft in bestimmten Sparten unvorhergesehen unprofitabel machen. Und nur so können sie Kunden frühzeitig mit geeigneten Produkten gegen neu entstehende Risiken absichern.
Emerging Risks sind Risiko und Chance zugleich, sagt Janine Rincke, Underwriter & Data Scientist im fakultativen Sachgeschäft und Spartenmanagement Sach bei der Deutschen Rück: „Die weltweite Vernetzung, der technologische Fortschritt und tiefgreifende klimatische Veränderungen führen zu einer steigenden Anzahl von Emerging Risks. Um im Wettbewerb erfolgreich zu sein, ist es von entscheidender Bedeutung, sie so früh wie möglich zu identifizieren und sie präzise einzuordnen.“
Wie anspruchsvoll das Identifizieren neu entstehender Risiken ist, weiß Christian Rieck, Professor für Finance und Wirtschaftstheorie an der Fachhochschule Frankfurt University of Applied Sciences, der sich intensiv mit Krisen auseinandergesetzt hat. „Viele Risiken sind systemischer Natur. Sie betreffen nicht nur einen einzelnen Sektor, sondern beeinflussen mehrere Akteure, Branchen oder Märkte gleichzeitig. Ändert sich ein Teil des Systems, kann dies unerwartete Folgen für andere Teile haben. Das erschwert präzise Vorhersagen.“
Beispiel Kraftfahrtversicherung: Wenn Autos bei Amokfahrten oder Anschlägen als Waffe im Rahmen von Terrorismus eingesetzt werden, ergeben sich besondere rechtliche und versicherungstechnische Fragen: Wer haftet für die verursachten Schäden? Welche Entschädigungsansprüche haben die Opfer? Inwiefern könnte eine zusätzliche Terrorversicherung greifen?
Beispiel Haftpflichtversicherung: Ewigkeitschemikalien, auch bekannt als PFAS (per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen), finden sich in einer Vielzahl von Produkten und sie bauen sich nur sehr langsam oder gar nicht ab. Sie stehen im Verdacht, erhebliche Umwelt- und Gesundheitsprobleme zu verursachen, was durch immer mehr Langzeitstudien bestätigt wird. Die schädlichen Folgen treten oft erst nach Jahrzehnten auf, was die Einschätzung der Risiken und die Vorhersage von Schäden schwierig macht.
Beispiel Sachversicherung: Das Risiko, dass durch Sabotagen oder Naturkatastrophen Stromnetze und Kraftwerke lahmgelegt werden, wächst. Das steigende Schadenpotenzial bei solchen Ereignissen erfordert flexible und immer umfassendere Lösungen.
Ein crossfunktionales Team der Deutschen Rück analysiert Emerging Risks und deren Auswirkungen auf die Sach-, Haftpflicht- und Kfz-Versicherung. Dabei arbeiten Experten aus dem Sparten- und Risikomanagement eng zusammen. Wegen der Neuartigkeit der Risiken gibt es keine explizite Datenlage, so dass die Experten auf andere Recherchequellen angewiesen sind. Dabei ist ihr Blickwinkel äußerst breit gesetzt. So beobachtet das Team kontinuierlich Wirtschaftsmedien, wissenschaftliche Publikationen und Berichte internationaler Organisationen zu Themen wie Klimawandel, Technologie oder Geopolitik. Aber auch Social-Media-Plattformen sind eine nicht zu unterschätzende Ressource. Nicht zuletzt tauscht sich das Team regelmäßig mit Erstversicherern aus. „Bei uns laufen Informationen von zahlreichen öffentlichen, aber auch privaten Versicherern zusammen“, erklärt Rincke. „Das gibt uns die Möglichkeit, die aktuellen Versicherungsportfolios genau zu analysieren und die Versicherungslage mit Blick auf Emerging Risks einzuschätzen.“
Stellt das Team fest, dass ein Thema potenziell signifikante Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft hat, nimmt es eine Einordnung auf Grundlage zweier Parameter vor: Zeithorizont und Impact. Der Zeithorizont beschreibt, ob das Risiko unmittelbar bevorsteht oder erst in Zukunft Bedeutung haben kann. Der Impact bezieht sich auf eine erhöhte Schadenfrequenz und eine erhöhte Schadenssumme pro Fall. Das ermöglicht eine Klassifizierung der Risiken nach ihrer Dringlichkeit und Schwere. Ein Risiko mit einem kurzen Zeithorizont und einer großen Auswirkung könnte kurzfristig erhebliche Schäden verursachen – wie beispielsweise ein plötzlich eintretendes Hochwasser. „Mit dem Klimawandel nehmen zum Beispiel Überflutungen erheblich zu, und das auch in bislang nicht hochwassergefährdeten Gebieten“, berichtet Rincke. „Hier sehen wir einen großen Versicherungsbedarf, der sich durch eine Erweiterung der Wohngebäude- oder Hausratversicherung mit einer Elementarversicherung decken ließe.“ Ziel des Teams ist es, das Risikobewusstsein der Erstversicherer zu schärfen und sie dabei zu unterstützen, ihre Versicherungsprodukte optimal auf kommende Herausforderungen auszurichten.
Janine Rincke, Underwriter & Data Scientist im fakultativen Sachgeschäft und Spartenmanagement Sach bei der Deutschen Rück
Besonders schwierig zu identifizieren sind schleichend auftretende Risiken. „Sie können sich über viele Jahre hinweg entwickeln, in ihrer Ausprägung deutlich schwanken und zwischendurch auch zum Stillstand kommen“, sagt Christian Rieck. Die Deutsche Rück hat Adipositas als eines dieser Risiken klassifiziert. Dazu hat sich das Team unter anderem die Entwicklung des Body-Mass-Index (BMI) in den vergangenen Jahrzehnten angeschaut und zu den Folgen von Fettleibigkeit recherchiert. Dabei stellte es fest, dass Adipositas Auswirkungen auf die Kfz-Haftpflichtversicherung haben kann. In der Regel übernimmt die Kfz-Haftpflicht des Unfallverursachers die Kosten für die medizinische Behandlung und Pflege der bei einem Unfall geschädigten Person. Ist ein adipöser Mensch in einen Kfz-Unfall verwickelt, können die Pflegekosten deutlich steigen, erklärt Deutsche-Rück-Expertin Rincke. „Womöglich benötigt die Person ein speziell angefertigtes Pflegebett oder es sind zwei Pflegekräfte statt einer nötig, um die Person adäquat betreuen zu können.“ Das Team spielt Szenarien wie diese durch und behält sie auf dem Emerging-Risks-Radar. In regelmäßigem Abstand erfolgt ein Review des neuen Risikos, um es bei Bedarf neu oder anders einzuordnen. Je nach Entwicklung der Rahmenbedingungen kann ein Emerging Risk sogar wieder ganz vom Radar verschwinden.
Wie aus neu aufkommenden Risiken Geschäftschancen entstehen, zeigt sich am Beispiel von Cyberversicherungen. Vor rund 20 Jahren, als das Risiko systemrelevanter IT-Probleme und Hackerangriffe noch gering war, wickelten Erstversicherer Schäden in diesem Segment über traditionelle Policen wie Haftpflicht- oder Sachversicherungen ab. Mit zunehmender Komplexität von Cyberbedrohungen konzipierten sie immer speziellere Absicherungslösungen – heute sind Cyberversicherungen eine eigene Sparte. „Cyberkriminalität ist bereits ein sehr etabliertes Emerging Risk, auf das die Versicherungsbranche umfassend reagiert hat“, erklärt Rincke. „Mit unserer Arbeit wollen wir sicherstellen, dass dies auch bei zukünftigen Risiken frühzeitig gelingt.“
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Andreas Meinhardt (verantwortlich für den Inhalt)
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Dr. Marc Surminski, Zeitschrift für Versicherungswesen
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Veröffentlicht im Dezember 2024
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